Wir sind also in Canakkale angekommen und haben uns in dem kleinen, zentral gelegenen Hotel niedergelassen. Dort haben wir ein Zimmer für drei Nächte gebucht. Für die beiden Tage in Canakkale haben wir geplant ein paar Erledigungen und Besichtigungen zu unternehmen. Wir wollten uns das Kriegsmuseum und den Palast ansehen, was leider beides geschlossen war. Immerhin konnten wir den bekannten Bazar besuchen und das dort typische Käsehelva probieren.
Wir haben überlegt Troja zu besuchen, ein beliebtes Ausflugsziel, das von Canakkale aus regelmäßig von Shuttlebussen angefahren wird, diesen Plan zu Gunsten eines erholsameren Tages aber verworfen.
Am Mittag des Aufbruchs haben wir von Canakkale aus eine Fähre nach Kilitbahir auf der Halbinsel Gallipoli genommen. Dort wollen wir die Gefallenendenkmäler des ersten Weltkriegs besuchen. Dafür hat Andi eine Route geplant, die uns an der Küste entlang einmal um das südliche Ende der Halbinsel führt. Das einzige Manko der Strecke ist der penetrante Gegenwind.
Nach etwas mehr als 30 km finden wir auf einem großen, ungenutzten Schotterparkplatz einen Zeltplatz mit einem malerischen Ausblick über die Dardanellen. Die Meerenge verbindet das Marmarameer mit der Ägäis. Dort passieren alle Schiffe, die aus dem Schwarzen Meer oder dem Marmarameer in die weite Welt hinaus fahren. Beim Abendessen beobachten wir den regen Frachtschiffverkehr. Trotz des Windes packt Andi die Drohne aus und macht ein paar Aufnahmen.
Bis zur Gedenkstätte für die im ersten Weltkrieg gefallenen türkischen Soldaten sind es nur noch wenige Kilometer. Andi macht also einen Ausflug dort hin. Es handelt sich um eine beeindruckend große Anlage, die von einem fast 42 m hohen Monument dominiert wird. Außerdem befinden sich dort symbolische Gräber, eine Moschee, ein Museum, ein in Stein gemeißeltes Bildnis des Krieges und einige andere symbolische Respektbezeugungen für die Gefallenen. Mit der Drohne haben wir schon am Abend vor unseres tatsächlichen Besuchs einen Eindruck vom Denkmal bekommen.
Die Nacht war relativ laut, da der nicht abflauende Wind das Zelt ordentlich durchgerüttelt hat. Morgens wurden wir von der Sonne geweckt, die mit Fortschreiten des Jahres immer früher aufgeht. Ich habe Andi aus dem Zelt gejagt, da das rot-orangene Licht einen schönen Sonnenaufgang versprach. Bei knapp über null Grad haben wir uns in unseren Schlafsachen in den Wind gestellt und unsere Drohne ein weiteres Mal bemüht. Belohnt wurden wir mit ein paar schönen Aufnahmen der aufgehenden Sonne.
Nachdem wir uns das türkische Denkmal live angesehen, sind wir am südlichen Ende der Halbinsel endlich aus dem Gegenwind in einen angenehmen Rückenwind abgebogen. Es ging für uns jetzt nach Norden, also zurück in Richtung Bulgarien. Auf dem Weg sind wir noch an einigen anderen Gedenkstätten vorbei gekommen. Hauptsächlich für die Soldaten Großbrittaniens und seiner Kolonien. Neben einem großen Monument gibt es einige Friedhöfe, deren Grabsteine aber in den meisten Fällen nur symbolisch für die Gefallenen aufgestellt wurden. Wir haben einen Taxifahrer getroffen, der uns erklärt hat, dass die französische und britische Armee auf Gallipoli eingefallen ist um das Hauptquartier der dort stationierten deutschen und türkischen Offiziere einzunehmen und Kontrolle über die Schifffahrt und die damit zusammenhängende Truppenversorgung zu erlangen. Geplant war es wohl die Eroberung des 7,5 km von der Küste entfernten Kommandozentrums innerhalb von 24 Stunden zu beenden. In der Realität haben die Kämpfe dort 8 Monate gedauert und die Alliierten nur 4 Kilometer weit ins Landesinnere gebracht. Insgesamt hat der Feldzug auf beiden Seiten etwa 100.000 Soldaten das Leben gekostet.
Zwar durch Rückenwind gestärkt, aber durch einige Höhenmeter gebremst, haben wir uns an der westlichen Küste der Halbinsel nach Norden bewegt. Gegen 18 Uhr haben wir unser Zelt aufgeschlagen, da für die gesamte Nacht Wind und Regen angesagt waren und wir möglichst vor Beginn im Trockenen sein wollten. Wir haben tatsächlich einen sehr schönen Platz ein Stück von einem Seeufer entfernt gefunden. Als wir im Zelt saßen und auf das Unwetter gewartet haben, entwickelte sich die aufziehende Regenfront zu einem beeindruckenden Gewitter. Ich muss zugeben, dass all die Nächte in denen ich von Geräuschen außerhalb des Zeltes aufgewacht bin, deutlich weniger beängstigend waren, als das direkt über uns vorbei ziehende Gewitter. Wir haben im Zelt gesessen und Sekunden gezählt bis das Gewitter wieder einige Kilometer entfernt war. Ein paar Stunden später hat auch der Regen fürs erste aufgehört und wir haben das Zelt verlassen um uns das Gewitter anzusehen, was weiter noch Osten gezogen ist. Die Blitze sahen in der dann klaren Nachtluft sehr beeindruckend aus.
Vom See aus sind wir zurück an die östliche Küste von Gallipoli geradelt. Am Marmarameer angelangt haben wir das letzte Kriegsdenkmal der türkischen Armee nördlich von Eceabat besucht und sind dann auf der Bundesstraße wieder nach Norden abgebogen. Zu unserem Unglück hatte der Wind in der Nacht gedreht und blies uns jetzt nicht nur entgegen, sondern brachte auch die kalte Luft aus dem Norden mit, sodass die Temperatur von einem Tag auf den anderen um knapp 15°C gefallen ist. Trotzdem konnten wir auch auf dieser Seite von Gallipoli den Ausblick nur genießen. Auf den Fotos, die wir gemacht haben, kann man nur schwerlich erkennen, dass unsere Ohren und Nasen rot von Kälte und unsere Zehen absolut taub waren.
Am Abend haben wir hinter der Stadt Gallipoli unser Zelt am Meer aufgeschlagen. Die Nacht war zwar ungestört, aber windig und kalt. Am nächsten Morgen haben wir unseren Plan mit dem Fahrrad nach Tekirdag über den Haufen geworfen, sondern sind zum Busbahnhof gefahren. Bis Tekirdag waren es zu diesem Zeitpunkt noch etwa 120 km. Da es in der folgenden Nacht allerdings heftig schneien sollte, haben wir am Mittag einen Bus bestiegen. Von Tekirag aus hätten wir sehr gerne einen weiteren Bus nach Lüleburgaz genommen, denn dort hat unser ehemaliger Host Inanc uns erneut in die Fahrradakademie eingeladen. Leider gab es wegen Corona Einschränkungen im Busverkehr und weder an diesem Samstag, noch am folgenden Sonntag fuhren Busse in unsere Richtung. Wir haben uns also entschieden am nächsten Tag trotz des Schneefalls zu versuchen nach Lüleburgaz zu radeln. Mit Hannis Hilfe, einer Türkin, die lange in Deutschland gelebt hat, haben wir uns bei der für den Busbahnhof zuständigen Polizei erkundigt, ob wir auf der kleinen Grünfläche nebenan zelten dürften. Der Polizist sagte, dass das kein Problem wäre und wir haben unser Zelt aufgebaut. Gegen 19 Uhr haben wir uns etwas zu essen bestellt und uns in eines der warmen Bushäuschen gesetzt. Ein paar Minuten später fuhr ein Polizeiwagen mit Blaulicht vor. Die Polizisten sind ausgestiegen und wurden von einer uns unbekannten Frau und einem Mitarbeiter des Ordnungsamtes zu unserem Zelt geführt. Wir sind also raus gegangen und haben gefragt, was los sei. Unsere Pässe wurden kontrolliert und uns wurde versichert, dass es völlig okay ist, wenn wir hier zelten, es aber außerordentlich gefährlich wäre und wir am besten abwechselnd schlafen würden. Wir haben zugestimmt und beteuert, dass wir aufpassen würden und sind dann zurück zum Essen gegangen.
Eine weitere halbe Stunde später stand der Mitarbeiter des Ordnungsamtes erneut vor uns und hat uns gesagt, dass wir nicht dort schlafen könnten und die Stadt uns in ein Hotel bringen würde, für uns sei das völlig kostenlos, aber mit dem ganzen Schnee und den Menschen wäre es draußen einfach zu gefährlich. Wir haben also all unsere Sachen wieder zusammengepackt und wurden zunächst zum Tee ins Securityhäuschen eingeladen. Dann ist irgendwann ein Polizeiwagen vorgefahren, der dann aber unverrichteter Dinge wieder abrücken musste, da die Fahrräder nicht hineinpassten. Anschließend kam ein Pickup mit Blaulicht. Die Polizei hat kurzerhand all unser Gepäck auf die Ladefläche verfrachtet. Ungesichert natürlich. Andi und ich wurden auf die Rückbank gepackt und dann ging es zu einem wirklich edlen 4 Sterne-Hotel.
Dort haben die beiden Beamten darauf bestanden, dass ich „in meinem Zustand“ keine der Taschen tragen durfte, sondern warten musste bis ein Page unser Gepäck in ein Deluxe-Zimmer gebracht hat. Nach einigen gemeinsamen Selfies und herzlichen Verabschiedungen haben wir unser warmes und trockenes Hotelzimmer bezogen. Wir haben geduscht und uns im riesigen Bett ausgeschlafen. Am nächsten Morgen gab es Frühstück, so etwas edles hätten wir uns am Valentinstag sonst wohl nicht gegönnt. Es gab sogar eine Auswahl an Kuchen und Törtchen. Während des Frühstücks hatten wir einen beängstigend guten Blick auf die schneebedeckten Straßen, den grauen Himmel und den nicht endenden Nachschub von Oben. Trotzdem haben wir das Hotel gegen Mittag verlassen und zumindest versucht uns auf den Weg nach Lüleburgaz zu machen. Meine Motivation durch den Schnee zu radeln endete etwa 2 Meter nach der Parkhausausfahrt. Ich habe mich sofort mehrfach hingelegt. Trotzdem haben wir es ganze fünf Kilometer weit versucht, dann habe ich aufgegeben. Wir haben uns ein günstiges Hotel gesucht und dort eine Nacht gebucht.
Zu Andis Leidwesen haben wir also das Radfahren im Schnee durch Spazieren im Schnee ersetzt und uns die Stadt näher angeguckt. Am nächsten Tag haben wir und dann auf mein Drängen hin am Busbahnhof eine Möglichkeit gesucht mit Sack und Pack nach Lüleburgaz zu kommen. Ich war von der Erfahrung am vorherigen Tag noch immer traumatisiert. Während der Busfahrt, die mit den Fahrrädern dieses Mal nur durch eine wohlwollende Spende an den Busfahrer möglich war, habe ich erkannt, dass der meiste Schnee auf der Bundesstraße schon geschmolzen und eine Fahrradfahrt nach Lüleburgaz problemlos möglich gewesen wäre. Trotzdem war ich nicht traurig, dass wir keine 60 km fahren mussten. In Lüleburgaz wurden wir von Inanc herzlich empfangen. Dieses Mal gab es sogar Wlan in der Fahrradakademie und wir haben verstanden, wie die Heizung funktioniert. Für den nächsten Tag hat Inanc uns geholfen einen Termin für den nächsten Ultraschall und eine Blutuntersuchung im Krankenhaus auszumachen. Wir waren ziemlich aufgeregt, da wir zum ersten mal den Herzschlag unseres Kindes hören konnten. Meine Blutwerte waren bestens und die Ärztin hat mir versichert, dass Radfahren weiterhin völlig in Ordnung ist. Wir sind noch einige Tage in Lüleburgaz geblieben. Dort hatten wir eine sehr entspannte Zeit, eine Küche, ein Zimmer und ein Bad für uns alleine. Wir haben für uns selbst gekocht, was besonders für mich sehr angenehm war, da ich unter Schwangerschaftsübelkeit zu leiden begann. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich das sonst so köstliche türkische Essen mit all seinem Öl und den Gewürzen nicht mehr riechen. Außerdem mussten wir noch auf die Lieferung von Andis neuem Helm warten, da er einige Tage zuvor sein Fahrrad auf seinen schönen, blauen Helm geworfen hat und dieser, jetzt gespalten, kaum mehr schützen konnte.
An einem Tag war eine Gruppe von Frauen zu Besuch, die auf traditionelle Weise herausgefunden hat, dass wir einen Jungen bekommen werden. Sie haben auf einen Stuhl ein Messer und auf einen anderen eine Schere gelegt. Dann haben sie beides mit Jacken verdeckt und ich musste mich unwissend auf einen der Stühle setzten. Ich wählte den mit dem Messer, also wird es ein Junge. Zum Abschied haben wir ein weiteres Mal ins Gästebuch geschrieben und versprochen, dass das nicht unser letzter Aufenthalt gewesen sein würde.
Unser nächstes Ziel war Kirklareli, dort waren wir erneut mit Egemen verabredet, der mittlerweile mit seiner Familie in eine Wohnung außerhalb der Stadt gezogen ist und uns deshalb zuhause aufnehmen konnte. Leider lief die Fahrt zu ihm nicht so glatt wie erhofft. Andi ist nur wenige Kilometer vor unserer Ankunft eine Speiche gerissen. Wir hatten Glück im Unglück, denn wir wurden umgehend von einer Familie zu Tee und Mittagessen eingeladen, während Andi sein Rad im Warmen reparieren durfte.
Als wir es dann doch bis zu Egemen geschafft haben, wurden wir mit frischem Fisch aus dem Backofen, Suppe und selbstgebackenem Kuchen empfangen. Wir sind insgesamt drei Nächte bei Egemen und seiner Familie geblieben. Es war eine tolle gemeinsame Zeit. Egemens frau ist eine begnadete Köchin und Konditorin. Das Beste war, dass ich mir das Essen aussuchen durfte, die Vorteile der Schwangerschaft! Unsere Gastfamilie hat besonders mir sehr geholfen. Ich habe zwei Hosen bekommen, eine gemütliche mit Platz für den wachsenden Bauch und eine Warme zum Radeln. Außerdem hat unser Baby eine Strickjacke geschenkt bekommen. Der Aufbruch ist uns sehr schwer gefallen, da wir alle vier in unser Herz geschlossen haben. Aber, was sein muss, muss sein und wir sind am Dienstag, den 23.2., nach Edirne gefahren.
Am Abend haben wir für Sadeg, seinen Neffen, seinen Mitbewohner und uns Omas typische Hackfleischsauße mit Zwiebeln gekocht. Wir haben geplant nur eine Nacht zu bleiben. Dann haben wir entschieden am nächsten Tag in Edirne den zum Grenzübertritt notwendigen PCR-Test zu machen und noch eine weitere Nacht zu bleiben. Am folgenden Tag mussten wir feststellen, dass wir den Test nur an der Grenze machen können. Am Mittwoch Abend hat die Schwangerschaftsübelkeit mich dann voll aus den Socken gehauen. Als es mir erst Donnerstag und dann Freitag nicht besser ging, haben wir entschieden bis Sonntag zu bleiben und Sadeg und seinen Freunden beim Müllsammeln im Park zu helfen und anschließend zu Grillen.
Am Sonntag hat unser Host, nachdem wir unsere Taschen fertig gepackt haben, eingewandt, dass das Testzentrum an der Grenze vermutlich geschlossen hat und sein Bruder uns ohnehin zum Tee eingeladen hat. Wir haben das Angebot eine weitere Nacht zu bleiben angenommen, aber geschworen nichts auszupacken und am nächsten Tag früh aufzubrechen. Wir haben wirklich kaum etwas ausgepackt, es aber trotzdem nicht geschafft so früh aufzubrechen, wie geplant. Als wir die Wohnung endlich verlassen und die Tür verschlossen haben, war das unglücklicherweise nicht mit all unserem Kram und Andi musste nochmal in die Stadt fahren, einen Schlüssel von Sadeg abholen und seine Uhr befreien. Gegen Mittag konnte es dann endlich los gehen. Die letzten 25 km bis zur Grenze haben wir in weniger als zwei Stunden geschafft. Dann wurde der Abstrich gemacht und das Ergebnis konnten wir nach vier Stunden abholen. In der Zwischenzeit haben wir uns in die Kantine einer Tankstelle gesetzt. Dort hat uns ein LKW-Fahrer Mittagessen ausgegeben und uns einen letzten Eindruck der türkischen Gastfreundschaft vermittelt bevor wir die Grenze nach Bulgarien überfahren haben.
Hinterlasse einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar schreiben zu können.